AD(H)S im Erwachsenenalter – wenn Aufmerksamkeit eine eigene Dynamik hat
- Christine Andert

- 1. Nov.
- 2 Min. Lesezeit
In den letzten Jahren rückt ein Thema stärker in den Blick, das lange wenig Beachtung fand: AD(H)S bei Erwachsenen. Viele Menschen erhalten ihre Diagnose erst spät im Leben – oft nach Jahren des inneren Suchens und des Versuchs, den eigenen Alltag irgendwie zu bewältigen. Das Erkennen kann entlasten, irritieren oder beides zugleich: Plötzlich bekommen frühere Erfahrungen eine neue Bedeutung, und zugleich stellt sich die Frage, wie das eigene Leben unter neuen Vorzeichen verstanden werden kann.
Aufmerksamkeit – ein schillerndes Phänomen
Das, was wir „Aufmerksamkeit“ nennen, ist kein stabiler Zustand, sondern ein ständiges Wechselspiel: zwischen Reizen, Interessen, Emotionen und innerer Regulation. Bei Menschen mit AD(H)S verläuft dieses Zusammenspiel anders – nicht weniger oder mehr, sondern anders. Aufmerksamkeit richtet sich oft spontan und intensiv auf das, was gerade fesselt, während Alltägliches schnell entgleitet. Dieses Muster kann zu Unruhe, Überforderung oder Schuldgefühlen führen, aber auch zu hoher Kreativität und einer besonderen Lebendigkeit im Denken.
Viele Gesichter – mit und ohne „H“
Der Begriff AD(H)S umfasst verschiedene Ausprägungen. Manche Menschen erleben die Hyperaktivität vor allem körperlich – ein Drang, ständig in Bewegung zu sein. Andere kennen sie eher innerlich: ein dauernd kreisendes Denken, eine rastlose Energie im Kopf.Es gibt auch Formen ohne das „H“, die oft stiller verlaufen. Hier steht weniger die sichtbare Unruhe im Vordergrund, sondern die Schwierigkeit, sich zu organisieren, Aufgaben zu strukturieren oder den Fokus zu halten. Diese Unterschiede führen dazu, dass ADHS bei vielen – besonders bei Frauen – lange übersehen wird.
ADHS bei Frauen – das leise Übersehen
Frauen mit ADHS haben häufig gelernt, sich anzupassen. Statt mit Unruhe aufzufallen, bemühen sie sich, alles „richtig“ zu machen, Erwartungen zu erfüllen, Ordnung zu halten – oft um den Preis großer innerer Anspannung. Viele berichten von Erschöpfung, Selbstzweifeln oder dem Gefühl, ständig hinter sich selbst herzurennen. Wenn die Diagnose schließlich im Erwachsenenalter gestellt wird, ist das oft ein Moment tiefer Erleichterung: das eigene Erleben darf einen Platz bekommen, jenseits von Schuld oder Versagen.
Selbstverständnis statt Selbstoptimierung
Eine Diagnose kann Orientierung geben, doch im Mittelpunkt steht nicht das Etikett, sondern das Verständnis für die eigene Art, wahrzunehmen und zu leben. Der personzentrierte Blick richtet sich darauf, was das Erkennen dieser Dynamik für die einzelne Person bedeutet. Welche Erfahrungen werden dadurch verständlicher? Welche Möglichkeiten eröffnen sich im Umgang mit sich selbst?
Es geht weniger darum, Symptome zu „beseitigen“, als darum, den eigenen Rhythmus kennenzulernen, die inneren Bewegungen zu verstehen und mit ihnen stimmiger umzugehen.
Ein neuer Blick auf Aufmerksamkeit
Vielleicht liegt in dieser Auseinandersetzung auch eine Einladung: Aufmerksamkeit nicht nur als Fähigkeit zu betrachten, sondern als Ausdruck dessen, wie jemand in Beziehung zur Welt steht. Wenn man beginnt, die eigene Art des Wahrnehmens anzunehmen, entsteht Raum – für Verständnis, Selbstmitgefühl und manchmal auch für eine leise Versöhnung mit sich selbst.




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